
Nachdem ich dem Lehrerberuf den Rücken gekehrt und mich im Hunsrück niedergelassen hatte, hielt ich mich mit Kunsthandwerk über Wasser. Ich nähte, bestickte und applizierte Jacken, Taschen und Rucksäcke und bot diese auf Kunsthandwerkermärkten an. Parallel lief immer die Frage mit, wie ich mir mein weiteres Leben vorstelle. Als mich meine damalige Vermieterin bat, ihr ihren bestellten Quark aus dem Naturkostladen in Simmern mitzubringen wusste ich natürlich nicht, dass diese Bitte mein Leben nachhaltig verändern würde. Schon als ich den Laden betrat, nahm ich diese überraschend angenehme Atmosphäre wahr. Es ist kaum in Worte zu fassen, was es genau war, aber etwas war sehr besonders, anders, als ich das aus anderen Geschäften kannte. Ich kam öfter, schaute mich um, entdeckte Sachen, die ich noch nie gesehen hatte und Preise, die mich in Erstaunen versetzten. Bei einem dieser Besuche fragte ich die damalige Inhaberin, ob sie nicht eine Aushilfe suchen würde, vielleicht für zwei oder drei halbe Tage. “Leider nein,” sagte sie, “ich suche im Moment grade Nachfolger, ich möchte das Geschäft verkaufen. Aber ich schreibe mir trotzdem mal Deine Telefonnummer auf.” Schade, dachte ich, und machte mich auf den Weg nach Hause. Vielleicht ein halbes Jahr später rief die neue Besitzerin an. Sie hätte meine Telefonnummer in der Ladenkasse gefunden und ob ich noch Interesse an der Stelle als Aushilfe hätte? Na klar, hatte ich.
Gleich an meinem ersten Arbeitstag im April 1984 fragte sie mich: “Sag mal, kannst Du Dich vielleicht mal ganz schnell einarbeiten? Ich brauche nämlich ganz dringend Urlaub. Wär das möglich?” Ich: “Ja, klar, das wird schon gehen.” Und so kam es dann auch, ich arbeitete eine Woche mit ihr zusammen, dann fuhr sie für zwei Wochen in Urlaub. Zwei Tage bevor sie wiederkommen wollte rief sie aus Portugal an: ob sie noch eine Woche verlängern könnte. Ich: “Ja, das wird schon gehen.” Und zwei Tage bevor die Verlängerungswoche zu Ende war rief sie an: “Du, wir haben uns entschlossen auszuwandern. Du kannst Dir jetzt überlegen, ob Du den Laden übernehmen willst, dann machst Du Inventur und überweist mir das Geld. Oder, wenn Du das nicht willst, hängst Du einen Zettel an die Tür “Vorübergehend geschlossen” , schließt ab und ich komme dann irgendwann und löse den Laden auf.”
Buff, das hat gesessen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Dann kam Ärger auf, sogar Wut, und kurz auch Verzweiflung: jetzt habe ich 4 Wochen in diesem Laden gearbeitet und es war das erste Mal seit vielen Jahren, vielleicht sogar das erste Mal überhaupt, dass eine Arbeit mir so richtig Spaß gemacht hat. Und jetzt sollte das schon wieder vorbei sein? Nicht mit einem Gedanken erschien es mir möglich, den Laden zu übernehmen. Ich traute es mir nicht im Geringsten zu, ich hatte einfach null Ahnung. Weder von Biolebensmitteln, noch von gesunder Ernährung, noch von Ökologie und schon gar nicht von Kalkulation, Mehrwertsteuer und sonstigen Geheimnissen des Einzelhandels.
Mein Glück war, dass sie es nicht eilig hatte mit dem Auflösen des Ladens . Und so arbeitete ich einfach weiter. Fragte alle Kunden, was das ist, was sie da grade kaufen und warum sie für Salz, das im “normalen” Geschäft 20 Pfennig kostete, hier 1,20 Mark bezahlen. So wurden meine Kunden zu meinen ersten Ausbildern. Alle, wirklich alle, wussten mehr als ich. Das war eine spannende Zeit. Mit jedem Wissensbröckchen, was ich kriegen konnte, wuchs meine Lust auf mehr Wissen und auf diese Arbeit. Ich las mich einmal quer durch das wirklich große Bücherangebot im Laden, Kochbücher, Gesundheitsbücher und viel aus dem weiten Feld der Esoterik. Nach Feierabend und am Wochenende traf ich mich mit Bioladen-Kollegen und fragte ihnen Löcher in den Bauch und stellte ungläubig fest, dass sie meine Fragen nicht beantworten konnten. Die Biobewegung war 1984 wirklich noch sehr am Anfang und alle waren wie ich Greenhorns und Quereinsteiger. Es gab keine Seminare oder Ausbildungen, das kam alles erst später. Aber ich hatte Feuer gefangen und es gab keinen Weg zurück. Ich fragte eine Freundin, die grade aus Berlin in den Hunsrück gezogen war, ob sie sich vorstellen könnte, den Laden mit mir zusammen zu betreiben, sie wusste zwar auch nicht mehr als ich, aber ich dachte, zu zweit wäre das eher zu schaffen. Wir beschlossen, 6 Wochen zusammen zu arbeiten und dann zu entscheiden. Nach den 6 Wochen war ich sicher, ja, mit ihr zusammen würde ich mich trauen, und sie sagte nein, sie hätte in den 6 Wochen gemerkt, sie sei doch eine Stadtpflanze, sie muss zurück nach Berlin. Tja, so war das. Das Dramatische daran war, dass ich die halbe Salami schon gekauft hatte und nun noch weniger zurück konnte und nochmal sehr unglücklich war. Also blieb ich dran, arbeitete weiter und weiter und meine Arbeitgeberin ließ es geschehen. Und so gingen die Wochen und Monate ins Land.
Irgendwann war es dann so weit: ich wusste, ich mach das. Nach Absprache mit der bisherigen Besitzerin machte ich Inventur, sie schickte mir eine Vollmacht, so dass ich ihre Abschlussbilanz in Auftrag geben konnte, überwies ihr das Geld, meldete den Laden zum 18. Februar 1985 auf meinen Namen an und war Inhaberin des 20 m² großen Naturkostladens Sieben Sinne in Simmern, Vor dem Tor 7.
Die ersten Wochen meiner Selbständigkeit waren komisch. Ständig kamen Leute, die mir Dinge verkaufen wollten. Zum Beispiel Feuerlöscher oder Brandschutz-Versicherung, Wasserschaden-Versicherung, Berufsunfähigkeits-Versicherung, Vandalismus-Versicherung, das bräuchte man alles als Selbständige. Schon wieder eine neue Welt, in der ich mich nicht auskannte. Brauche ich das wirklich? Ich schickte die Leute weg und bat sie, in zwei Wochen wieder zu kommen und nahm mir Zeit zum Nachdenken. Mit Vandalismus war ich schnell fertig, das passt nicht zu Simmern und schon gar nicht zu einem Bioladen. Berufsunfähigkeit, das passt nicht zu mir. Irgendetwas wird mir immer einfallen. Brauch ich auch nicht. Aber Brand und Wasserschaden? Das kann schon mal vorkommen. Und dann sehe ich die Geschichte, wie der Laden und ich zueinander gefunden haben und weiß, ich brauche keine Versicherung. Es ist ja nicht so, dass ich mir diesen Laden erkämpft hätte, ich habe noch nicht einmal danach gesucht, nein, der Laden hat mich gesucht und gefunden und warum sollte er nicht bleiben wollen?
So arbeitete ich mich durch die vielen neuen Welten, die mir begegneten und wuchs daran. Ich lernte, dass Porto keine Mehrwertsteuer hat und warum Bio-Salz teurer ist.